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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Die Seele der manuellen Medizin

Stoddard (1959) Untersuchung Thorax

Stoddard (1959)
Untersuchung Thorax

Manchmal kann man die Idee bekommen, Manualmedizin sei etwas für grumpy old men und irgendwie eine Abart irgendwelcher krankengymnastischen Techniken, und Osteopathie oder craniosacrale Therapie ohnehin viel ‚wissenschaftlicher‘ – oder zumindest hipper.

Dies Bild aus einer Monographie von A.Stoddard aus den 50ger Jahren demonstriert, wie man bei Untersuchung und Behandlung dem Patienten nahe kommt. Diese Untersuchung sieht in allen erwähnten Methodiken übrigens recht ähnlich aus…

Eigentlich sollte man die Menschheit ja im Glauben lassen und einfach und ruhig weitermachen um durch die praktischen Ergebnisse zu überzeugen. Andererseits schade, denn Manualmedizin hat Potential – und was wichtig ist: subversives Potential. Jenseits aller individuellen Positionierungen und Rumgockelei („Technik nach Häberle“ – „Untersuchung ad modum Pfleiderer“) ist im Konzept dieser ‚alten‘ Teildisziplin der Heilkunde ein zweifaches Erfolgsgeheimnis:

Der Erkenntnisgewinn durch Haptik

und

die Erweiterung des Horizontes durch Einbeziehung der funktionellen Pathologie.

In dem Maße, wie Medizin zu einem beliebig reproduzierbaren Industrieprodukt umgeformt werden soll, verliert man Zugang zur handwerklichen und künstlerischen Dimension der Heilkunde – und diese Begriffe seien hier bewußt so gegeneinandergesetzt. Hier die ‚validierte‘ Therapie (das doppelt-blind des ‚Goldstandards‘ reizt zu allerlei Wortspielen, die wir uns hier verklemmen), da die individuelle Kompetenz im Handwerklichen, die man erst nach vielen, vielen Stunden erreicht; 10.000 Stunden scheint eine gute Meßlatte zu sein (Sennett läßt grüßen).

Untersuchung mit den Händen ist ein immens komplexer Prozeß und nicht linear beschreibbar. Bevor ich die Patientin überhaupt anfassen kann muß eine empatische Beziehung da sein, das Vertrauen, sich ‚ans Fell fassen zu lassen‘, entspannt zuzulassen, dass da einer – im wörtlichen und übertragenen Sinne – in die Tiefe geht. Ohne diese Kautelen ist es völlig sinnlos, mit Palpation etwas erkennen zu wollen. Während der Untersuchung lenkt man seine eigene Wahrnehmung und die des Patienten auf gewisse Details, die dadurch deutlicher werden. Diese haptische Kompetenz ist nur schwer vermittelbar, denn schon der Nächste, der z.B. denselben Bauch untersucht, findet ja eine Situation vor, die nicht mehr der Ausgangslage entspricht. Und mehr als nur einige wenige kann man einer Patientin gar nicht zumuten.

Ausbildung also als Lehre beim Meister, nicht als 500-Mann-Kurs im Hörsaal.

Wieviel dieses explorierenden Palpierens ist Untersuchung, wieviel Behandlung? Auch dies eine Frage, die nicht scharf trennend beantwortet werden kann. Schon eine gründliche Untersuchung eines irritierten Colons kann Entspannung bringen, was man nicht selten spürt, wenn man am Ende der Exploration noch mal drübergeht. Solch eine Untersuchung klappt nicht, wenn der Patient – wie es die Regel ist – halbnackt wartend in einer kleinen Kabine vom hereinrauschenden Arzt ohne Übergang geradezu überfallen wird. Die Ruhe und Gelassenheit muß auf beiden Seiten da sein. Das geht nicht bei 100 Patientenkontakten pro Tag. Das ist auch eine Seite der Manualmedizin, die diese speziell macht.

Aufbauend auf dieser Information, die man ‚begriffen‘ hat, kommt man zu Betrachtungsansätzen, die dem gängigen Bild pathomorphologischer Konzepte oft widersprechen, zumindest aber dazu quer liegen. Man kann zum Beispiel eine Konzentrationsstörung als Problem der Wahrnehmung auffassen. Dann verursacht eine Kopfgelenkblockierung sensorischen Fehl-Input hochcervical, der die Geräuschausblendung durch stereophones Hören erschwert – um nur eine Dimension herauszugreifen.

Dann ergibt sich als ein möglicher Behandlungsansatz die Normalisierung der funktionellen Störung, in diesem Falle der Kopfgelenkblockierung. Dies ist dann zumindest eine Teil- Causa der Probleme dieses Kindes und die Therapie besteht eben nicht im Verschreiben irgendwelcher Medikamente. Dann ändert sich auch der diagnostische Rahmen: aus der – recht diffusen – ‚Konzentrationsstörung‘ wird eine sensomotorische Störung der akustischen Information. So ist man in eine kinderneurologische Kompetenz sozusagen ‚von der Seite‘ eingestiegen. Nicht immer passiert so was ganz ohne Spannung mit den im Fachgebiet ansässigen Kollegen…

Für die Manualmedizin heißt das, eigene nosologische Konzepte zu entwickeln. Man behandelt nicht eine Otitis media mit manuellen Techniken, sondern faßt die Otitis als Symptom auf und gräbt tiefer. Dann kommt man von der Mittelohrentzündung auf die Polyposis, die den Abfluß via Eustachische Röhre verlegt, und von da auf die Mundatmung, die die Adenoide erst hat wachsen lassen. Und die Mundatmung ist der orofacialen Dystonie geschuldet, wodurch der Mund dauernd offen war. So kommt man dann von einer pathomorphologischen Diagnose ‚Otits media‘ zu einer funktionellen Problemursache: orofaciale Hypotonie durch Kopfgelenk-Blockierung – und hat gleich eine funktionelle Therapie, die am Strukturellen ansetzt.

Das ist die Essenz der Manualmedizin, und als solche in vielen anderen Kontexten einsetzbar. Das führt aber zu einer Neubewertung klassischer Fachgebiete und ist also auch und nicht zuletzt eine Machtfrage. Funktionelle Pathologie ist dann nicht die kleine Schwester der Pathomorphologie, sondern der führende Ansatz.

Zwei Chancen, hier Neuland fruchtbar zu machen, wurden in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verschenkt: Kunerts bahnbrechende Veröffentlichung „Wirbelsäule und innere Medizin“ (1963) wurde ebenso wenig systematisch ausgebaut wie Derbolowskis „Chirotherapie: Eine psychosomatische Behandlungsmethode“ (1963). Letztere wurde eher als Skurrilität betrachtet, Kunerts Monographie stückweise und unzusammenhängend eingebaut.

Eine systematische Aufarbeitung fand nicht statt. Beide Ansätze waren so im anglo-amerikanischen Raum kaum vertreten und hätten ein echter ‚deutscher‘ oder eben kontinental-europäischer Beitrag zur Weiterentwicklung der Manualmedizin werden können. Man hat sich darauf beschränkt, von außen kommende Lehren in Deutschland zu verbreiten.

Das ist zugegebenermaßen etwas grob skizziert, man möge dies verzeihen, da ein Eigeninteresse durchschimmert. Die völlig neuen Denkansätze, die sich aus der Beschäftigung mit den funktionellen Kopfgelenk- Störungen bei Neugeborenen (vulgo: KiSS & KiDD)entwickeln ließen, fanden in den 80ger Jahren durchaus Interesse, wurden aber ebenfalls nicht systematisch weitergetrieben, sondern eher ‚appropriiert‘ – will sagen: zur Karriereplanung Einiger instrumentalisiert. Statt hier international ein Signal zu setzen wird eine Technik für ein spezielles Problem daraus gemacht. Ausgehend von den Beobachtungen bei Kleinkindern und Hernwachsenden muß aber heute eine ganz neue Sicht auf viele noch als ’neurologisch‘ angesehene Krankheitsbilder entwickelt werden, und ich bin mir sicher, das wird auch geschehen. Aber es könnte viel schneller und effizienter geschehen, wenn nicht individuelle Interessen den Blick auch das Wesentliche verstellten. Es ging halt mehr darum, wieder und wieder auf das KiSS- Konzept einzudreschen, statt gemeinsam weiterzuentwickeln. Und den Begriff KiSS für die frühkindlichen Probleme wird man auf absehbare Zeit kaum aus der Welt schaffen – was nicht wenige frustrieren dürfte ;-)

Vielleicht ist es auch ganz gut, wenn man systematisch ausgegrenzt wird, da man sich so nicht mit irgendwelchen Kommitees rumärgern muß, deren ‚Konsensbeschlüsse‘ unweigerlich zu einer Verwässerung eines konsistenten Konzepts führen würden. Leider hat dieser Zeitverlust aber dazu geführt, dass die manualmedizinische Herkunft des Konzepts der Therapie von Neugeborenen nur noch teilweise wahrgenommen wird. Das könnte egal sein, wenn die Qualität der Behandlung nicht darunter litte. so wird man weiterkämpfen müssen, um hier die Standards hoch zu halten.

In kaum einem Feld kann man die Essenz der Manualmedizin so gut darstellen wie bei den ganz Jungen, wo eben noch nicht hundert andere Faktoren das Bild so komplex machen, dass es vor lauter weißem Rauschen kaum mehr wahrnehmbar ist. Also muß man dran bleiben. Das Gebiet der funktionellen Störungen bei Babies, Kindern und Adoleszenten ist gerade mal angerissen – enorm viel bleibt zu entdecken und systematisch zu erschließen. Aus diesen Ansätzen ergeben sich Möglichkeiten zu helfen, die, am Funktionellen ansetzend, eine echte Alternative zu medikamentösen Behandlungen darstellen. Hier muß die Manualmedizin klar Stellung beziehen. Dann – und nur dann – kann man auch junge Kolleginnen und Kollegen dafür begeistern, die viele Zeit zu investieren, um sich diese faszinierende Spezialdisziplin zu erschließen. Es gibt noch viel zu tun….

 

 

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