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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Robuste & subtile Manualmedizin (mit M.Hyland)

Wer etwas zu sagen hat, wiederholt dies sein ganzes Leben lang.
Wer nichts zu sagen hat, läßt sich stets etwas Neues einfallen.

Eine der größten Überraschungen, wenn man von der Behandlung Erwachsener zu der von Kindern kommt, ist die ganz andere Wirkungsweise manueller Therapie (MT), die man dabei kennenlernt.

In der klinischen Anwendung bei Erwachsenen stehen die 1:1 Effekte im Vordergrund: man ist mit einem Problem konfrontiert, geht dieses an und der Patient hat relativ schnell – meist unmittelbar nach der Manipulation – einen überprüfbaren Effekt.

Doch auch bei Erwachsenen hat manuelle Therapie verschiedene Wirkmechanismen: Zum Einen – und dies ist mehr und mehr auch außerhalb manualmedizinischer Kreise akzeptiert – kann sie in der Behandlung solch alltäglicher Probleme erfolgreich sein. Ein klassisches Beispiel ist die Lumbago oder Ischialgie, wo MT heute schon routinemäßig eingesetzt wird. In vielen Fällen beginnt eine derartige Anamnese mit einem gut erinnerlichen Ereignis („..nach der Gartenarbeit…“ – „…dann bin ich gestolpert…“), dem in einem mehr oder weniger langen Intervall dann die Beschwerden folgen, deretwegen der Patient dann Hilfe sucht und oft – dank der Effizienz von MT – auch findet.

Diesem Ansatz, bei dem MT als eine Behandlungstechnik unter vielen eingesetzt wird, stehen derzeit kaum mehr größere Widerstände entgegen. Würde man es hierbei belassen, wäre die Situation völlig unproblematisch. Diese Variante der MT könnte man ‚robuste Manualtherapie’ nennen, womit nichts über die fachliche Qualität der betreffenden Therapie ausgesagt ist und auch nichts über die subjektive Besserung für den Patienten, die solch eine Behandlung bringt sondern primär über die Komplexität der durch sie bewirkten Effekte.

Ein anderer Wirkungsmodus von MT ist jedoch nicht mit diesem ‚technischen’ Denkmodell fassbar. In bestimmten Fällen – und eben oft gerade bei Neugeborenen und Kindern – erlebt man, dass MT in der Lage zu sein scheint, die individuelle Entwicklung tiefgreifend und langfristig zu beeinflussen. Ein wichtiges Kennzeichen dieser Fälle ist, dass die Behandlung nicht sofort einen positiven Effekt zeigt. Manchmal kommt es zu einer initialen Verschlechterung, manchmal zu einem – passageren – Rezidiv nach anfänglicher Besserung. Die Auswirkungen der Therapie sind in diesen Fällen oft erst Wochen nach der Behandlung evaluierbar und wirken noch weit länger nach. Diese Beobachtungen sind fast immer an bestimmte Altersabschnitte oder relativ präzise definierbare Lebensumstände (Zustand n. Trauma o.ä.) gekoppelt. Besonders bei Behandlungen in den ersten Lebensmonaten war dies auffällig.

Wir wissen heute, dass die Monate vor und nach der Geburt eine eminent wichtige Rolle bei der Auswahl des individuellen ‚Lebensmodells’ spielen. Aus einem Bündel von genetisch vorliegenden Modellen scheint dann eine epigenetisch fixierte Variante festgelegt zu werden, die den gesamten weiteren Lebensweg zumindest teilweise determiniert. Wenn man sich dieser weitreichenden Effekte der Interaktion zwischen den von außen einwirkenden Reizen und der sich entwickelnden neuromotorischen Organisation bewusst ist verwundert es kaum, wie sehr eine Verbesserung der Propriozeption – und darum handelt es sich im Wesentlichen bei der MT von Kleinkindern – eine so weitreichende Wirkung entfaltet.

In späteren Lebensphasen ist ein derart tiefgreifender Effekt manueller Therapie seltener zu beobachten, wenngleich er auch hier vorkommt, vor allem nach Unfällen mit Weichteiltrauma, bei denen eine wohlplatzierte Behandlung dramatische Verbesserungen bewirken kann; auch in diesen Fällen bewährte sich das „weniger ist mehr“ als therapeutische Leitlinie. In beiden Situationen ist die Wirkung der MT weitaus tief- und weitreichender als die einer einfachen Behandlung akuter Verspannungen, ein Wiederherstellen eingeschränkten Bewegungsumfangs. Wir würden deshalb hier von ‚subtiler Manualtherapie’ sprechen.

Der Ausgangspunkt für diese Überlegungen waren Berichte der Patienten bzw. Familien selber: wieder und wieder berichteten die Eltern behandelter Kleinkinder, dass „wir ein anderes Kind haben“ – „Sie nicht mehr wiederzuerkennen war“ – „Er in der Schule auffiel und er Lehrer uns sagte, plötzlich klappt alles“ etc.,pp. Parallel dazu kam es immer wieder zu Berichten, die eine anfängliche Verschlechterung der Situation beschrieben. Last not least fiel uns auf, dass die anfänglich empfohlene schnelle und intensive Nachbehandlung nach MT nicht selten eher kontraproduktiv war. Zudem war auffällig, wie lange es manchmal dauerte, bis ein Zustand stabiler Besserung erreicht war.

Reaktionsmuster komplexer biologischer Strukturen

Es zeigte sich also, dass es nötig wurde, sich über den Wirkmechanismus von MT Gedanken zu machen und dabei weiter zu denken als an die Frage, was nun das morphologische Substrat der angewandten Manipulation ist.

Bei der Analyse des Organismus bedienen wir uns zweier Methoden, ähnlich wie bei wissenschaftlicher Arbeit auf anderen Gebieten. Neben dem analytischen Ansatz, bei dem ein komplexes Problem so lange vereinfacht wird, bis man zu einem überprüfbaren experimentellen Ansatz kommt, steht das synthetische Konzept, das sich bemüht, aus vorhandenen Informationen eine umfassende Sicht des zu untersuchenden Sachverhaltes aufzubauen.

Die Anatomie bemüht sich zum Beispiel mit Hilfe eines synthetischen Ansatzes, die Komplexität des menschlichen Organismus verstehbar zu machen. Man zerlegt ein System in seine Einzelteile um so zu begreifen, wie es funktioniert. Wiewohl man auf diese Weise durchaus zu Fragestellungen kommt, die relevant, interessant und überprüfbar sind war doch immer deutlich, dass diese Herangehensweise ihre Grenzen hat. Grund dafür ist, dass es viele Situationen gibt, wo das Ganze eben mehr ist als die Summe seiner Komponenten und bestimmte Eigenschaften auftreten, die sich erst aus dem Zusammenspiel der Komponenten ergeben, aber nicht durch diese erklärbar sind. Rothmans Warnung, dass „wir nie hinreichend exakt eine Funktion aus den darunter liegenden Mechanismen erklären [können]“ gilt hier wie bei allen anderen biologischen Untersuchungen. Nur in der Betrachtung des ganzen Systems kann dessen Wirkungsweise untersucht werden, womit die klassische Zellularpathologie Virchows an ihre Grenzen stößt.

Dieses Phänomen wird als Emergenz bezeichnet. Eine klassische Problematik ist die Analyse des Verhaltens von Gruppen – seien es Börsenspekulanten, Wähler oder Fußgänger – deren kollektives Agieren nicht aus der Betrachtung der Einzel­moti­vationen erschließbar ist. Das Nervensystem ist ein ähnliches Beispiel, wobei die Untersuchung einer isolierten Nervenzelle oder auch nur eines ‚vereinfachten’ Nervensystems nicht ausreicht, um seine Funktionsweise zu verstehen. Diese Netzwerke mit ihren massiven Querverschaltungen und Rückkopplungen zwischen den einzelnen Komponenten ‚erzeugen’ verschiedene neue Qualitäten. Die für diese Betrachtung relevante neue Funktionalität kann als systemische Intelligenz bezeichnet werden.

Menschen (und Tiere) akzeptieren wir als intelligent, da sie ein komplexes Zentralnervensystem besitzen. Es ist aber heute schon möglich, ‚intelligentes’ Verhalten zu simulieren, wenn man über Geräte verfügt, die – vergleichbar zum Gehirn – über die Möglichkeit verfügen, Information parallel in einer Knoten- Netzwerkstruktur zu verarbeiten. Forschungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz zeigten, dass es gerade parallel strukturierte Systeme sind, die in der Lage sind, ‚intelligente’ Reaktionen hervorzubringen, z.B. Mustererkennung, problemorientierte Reaktionen oder ein strukturiertes Gedächtnis. Die Art und Weise, wie das Gedächtnis organisiert ist hat in diesem Kontext besondere Bedeutung, da sie fundamental anders vorliegt als bei unintelligenten Systemen. Die rasend schnellen Fortschritte der KI (Künstlichen Intelligenz) ermöglichen uns heute mehr&besser, die eigentliche Intelligenz besser zu begreifen. 

Zum Beispiel dieser Artikel: er ist auf einem Rechner geschrieben und gespeichert, wobei jeder Buchstabe einen definierten Platz auf einer Harddisk belegt. Speicher eines Rechners sind sequentiell, hintereinander liegend organisiert, so wie dies in allen ‚dummen’ Systemen geschieht.

In Netzwerken wird nicht sequentiell gespeichert. Hier liegen die Informationen verteilt auf viele Knoten vor. Das ganze System ‚erinnert sich’; wird hier ein Teil der Knoten entfernt geht nicht ein definierter Teil der Information verloren; wenn sich solch ein lokaler Verlust überhaupt praktisch bemerkbar macht dann insofern, als die Information unschärfer vorliegt als vorher.

Das Gehirn als Netzwerk par excellence ist relativ unempfindlich für Mikro- Läsionen. Schäden führen zu einer langsamen Degradation seiner Leistungen, die aber erst nach einer relativ langen Latenzphase überhaupt wahrnehmbar werden. Man denke an neurodegenerative Erkrankungen, wo die durch NMR nachweisbaren Schäden meist schon massiv sind, bis erste äußere Zeichen am Patienten wahrgenommen werden können.

Es ist vergleichsweise einfach zu akzeptieren, dass das Gehirn als intelligentes Netzwerk arbeitet – unsere Mitmenschen zeigen intelligentes Verhalten und das Gehirn sieht aus wie ein Netzwerk. Man sollte sich aber verdeutlichen, dass es durchaus komplexe Systeme gibt, die nicht auf den ersten Blick wie ein intelligentes Netzwerk aussehen, aber so agieren können. Dazu ist nicht mehr nötig als eine massive kausale Verknüpfung zwischen einzelnen Komponenten eines Systems und dies kann vielfältig erreicht werden, zum Beispiel durch Liganden, Rezeptoren oder hormonelle Rückkopplungen. Auch das Immunsystem und das endokrine System können als Netzwerke interpretiert werden, womit man ihnen unmittelbar ähnlich ‚intelligente’ Reaktionsmuster unterstellt wie dem Gehirn.

Die ‚intelligent body’- Hypothese hebt die schematische Trennung zwischen dem ‚intelligenten’ Gehirn und dem übrigen Organismus auf und postuliert eine nahtlose Verbindung zwischen ZNS und anderen Funktionskreisen des Organismus. Die ‚Erinnerung’ des Organismus (z.B. an Traumata) ist dann nicht auf das ZNS beschränkt.

Der intelligente Organismus

Schon vor Jahren wies Weizenbaum darauf hin, dass für die Schaffung eines Apparates mit spezifisch menschlicher Intelligenz mehr nötig ist als ein noch so großer Computer. Wir kennen in der Neurophysiologie das Konzept des ‚spinalen Gedächtnis’ als Instanz der senso-motorischen Kompetenz und in der Immunologie das ‚Erinnern’ des Immunsystems an durchgemachte Infekte. Beide Konzepte sind experimentell bestätigt. Diese Netzwerke mit ihren intelligenten Leistungen werden aber selten als integraler Teil und meist nur als Sonderfälle wahrgenommen. Allein schon die Tatsache, dass auch das als Glia (griechisch: „Kitt, Leim“) bisher unterschätzte Gehirngewebe – sie macht mengenmäßig über 2/3 der Hirnsubstanz aus – eine Rolle bei der Speicherung und Modifikation von Information spielt sollte die Bereitschaft fördern, über die klassischen Akteure Neuron/Axon hinauszudenken. Was spricht dagegen, dass das schon nachgewiesene ‚spinal memory’ auch bis in die Peripherie der artikulären Sensorik organisiert ist?

Das erweiterte Netzwerk des ‚intelligenten Organismus’ hat zur Aufgabe, die einzelnen Funktionsbereiche des Körpers zu koordinieren und so schnell und effektiv auf Umweltreize zu antworten. Solch eine adaptives System ‚lernt’ als Ganzes, und genau wie das Gehirn selber lernfähig ist, kann der intelligente Organismus lernend seinen Umweltbedingungen effektiver begegnen. Normalerweise führt dies zu einer besseren Selbstregulation und Anpassung. In bestimmten Situationen kann es aber auch dazu kommen, dass solch ein System inadäquat reagiert – dies ist dann der Beginn einer Erkrankung. Folgt man dieser Anschauungsweise dann ist Krankheit definiert als eine Fehlanpassung des ‚intelligenten Organismus’ als Gesamtsystem bzw. als eine Umweltsituation, die diese Mechanismen überfordert und so das Gleichgewicht vom Attraktor ‚ideale Homöostase’ zum Attraktor ‚stabile Fehlregulation’ verschiebt.

Krankheit ist dann eine Manifestation eines ‚Fehlers’ im Netzwerk des Organismus. Dies kann zwei Formen annehmen:

  • Die eine Variante besteht in einer system-spezifischen und lokalisierten Störung in guter Übereinstimmung mit dem klassischen Konzept westlicher Medizin. Dieser Krankheitstyp entspricht dem Paradigma des ‚defekten Bauteils’, das repariert werden muß. Ob es sich dabei um eine bakterielle Infektion handelt, die antibiotisch behandelt wird, eine Entzündung, deren Therapie in der Gabe von Antiphlogistica besteht oder um das Ersetzen einer defekten Herzklappe spielt letztlich für die zugrundeliegende Denkweise keine Rolle. Dieser konzeptionelle Ansatz hat zudem den Vorteil, dass seine Effizienz, da letztlich von nur einem Parameter abhängig, gut überprüfbar ist. Man kann hier von ‚robuster’ Therapie sprechen.

  • Eine Störung der Gesundheit, ein ‚Fehler im System’ kann aber auch eine andere Form annehmen, die eines Adaptationsfehlers des erweiterten Netzwerks. In einem solchen Fall gibt es keinen defekten Part, der repariert werden kann; hier liegt eine Störung der im ganzen System verteilten Information vor, die sich einer lokalen Therapie entzieht. Das Substrat dieser Pathologie der Funktion ist nicht in einem defekten oder veränderten Gewebe festzumachen. Der einzige Weg, hier zu einer Besserung zu kommen ist, das gesamte Netzwerk in die Therapie einzubeziehen. Analog würde man dies als ‚subtile’ Therapie bezeichnen.

Es ist prinzipiell möglich zwischen diesen beiden Therapieformen zu unterscheiden: die ‚robuste’ Therapie hat zum Ziel, deutlich abgrenzbare Störungen anzugehen und hierunter sind die meisten klassischen Behandlungsansätze subsummierbar. ‚Sub­tile’ Therapien andererseits zielen mit ihrem Input auf das gesamte Netzwerk. Einige gängige Beispiele sind Beratung zur Lebensführung (Diät, Sport etc.) und Methoden wie Akupunktur und etliche physikalische Verfahren (Bindegewebsmassage, Überwärmungsbäder etc.).

Wie die letztgenannten Beispiele bewegt sich auch die manuelle Medizin im Grenzbereich zwischen beiden Denk- und Behandlungsansätzen. Das Ziel all dieser Methoden ist, die im gesamten System gespeicherte Information zu beeinflussen, weshalb hier keine Fokussierung auf einen definierten Lokus der Therapie möglich ist. Während robuste Therapien so konzipiert sind, dass Kriterien der interpersonellen Kommunikation bei ihnen keine Rolle spielen, ist dies bei fast allen subtilen Therapien integraler Bestandteil des Behandlungskonzeptes.

Manuelle Therapie mit ihrer direkten ‚Be-handlung’ kann gar nicht ohne Berücksichtigung dieser Ebene funktionieren, wenn man von den oben beschriebenen ‚robusten’ Therapiemodi absieht. Diese Behandlungsformen sind deshalb nicht lokalisierbar und zielen auf eine Verbesserung der Funktion des gesamten Organismus. Schon vor etlichen Jahren wies Lewit darauf hin, dass „dieser [funktionelle] Therapieansatz nur sehr schwer statistisch beurteilbar ist“.

Die „funktionelle Pathologie“ Gutmanns (sie lieferte den Titel seiner Monographien als „Funktionelle Pathologie und Klinik der Wirbelsäule“), war ebenso wie die zitierte Arbeit Lewits Hinweis darauf, dass diese Diskussion in der Manuellen Medizin vor allem im deutschsprachigen Raum schon lange geführt wird.

Immer wieder sieht sich die hausärztlich orientierte Medizin gezwungen, dieser Situation mit diagnostischen Definitionen Rechnung zu tragen, deren Definition im Rahmen ‚robuster’ Kategorien notorisch schwierig sind. „Vegetative Dystonie“ – „chronic fatigue syndrome“  oder auch „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“ sind derartige Begriffe, aber schon scheinbar einfache Diagnosen wie ‚Schwindel’ oder ‚Schlaflosigkeit’ entziehen sich der Reduktion auf robuste Therapien.

Mit den Werkzeugen der modernen Kybernetik und Komplexitätstheorie sollten wir nun in der Lage sein, diesen Konzepten eine straffere Form zu geben und sie damit letztlich handhabbarer und auch überprüfbarer zu machen. Die Tatsache, dass diese Ebene der Medizin in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr an den Rand der Diskussion kam hat ja mehr mit ihrer schweren Überprüfbarkeit zu tun und weniger damit, dass sie unwichtig wäre, was schon allein daran erkennbar ist, dass mit jeder Zuspitzung der Medizin in Richtung ‚robuste’ Therapie die Zahl derer wächst, die alternative – und in aller Regel zumindest im Anspruch ganzheitlichere – Behandlungskonzepte anbieten.

Ein konzeptioneller Rahmen für ‚subtile Therapien’

Wie ist es nun möglich, die in einem erweiterten Netzwerk vorhandene Information zu beeinflussen? Von einem theoretischen Ausgangspunkt her bestehen zwei Optionen:

Ein Ansatz ist, das aus dem Gleichgewicht geratene System wieder in Richtung Aequilibrium zu ziehen, d.h. den Störfaktor zu beseitigen. Ein simples Beispiel ist der Rat an einen überarbeiteten Menschen, sich etwas Ruhe zu gönnen. Ähnlich wird man jemandem, der durch einseitige Ernährung Beschwerden entwickelte seinen Speiseplan im Sinne eines ‚idealen’ Menus modifizieren und gegebenenfalls mit Nahrungszusätzen ergänzen. Ein lokaler Infekt kann mit Desinfizienzien oder Antibiotica angegangen werden.

Oft besteht aber das Problem, dass viele Erscheinungen von Dysregulation sehr tiefgreifend sind. Zudem weisen sie eine typische Eigenschaft vernetzter Systeme auf: sie bleiben im pathologischen Zustand stabil fixiert und sind hier gegen Änderung genauso abgeschirmt wie man sich das für die ideale Homöostase wünschte. Ein einfaches ‚Ziehen’ in Richtung Normalzustand wird deshalb nicht genug Input übermitteln, um diesen stabilen pathologischen Zustand zu überwinden. Solch eine Behandlung führt wohl zu einer passageren Besserung, aber nicht zu einer definitiven Normalisierung.

Ein anderer Ansatz ist der des ‚Stoßes’, also ein Input ins System, der nicht den Zug in die richtige Richtung zum Hauptziel hat, sondern eine Irritation des – pathologischen – Aequilibriums, um so dem Netzwerk zu ermöglichen, aus diesem wieder in den ursprünglichen – richtigen – Gleichgewichtszustand überzuwechseln.

Das naturwissenschaftliche Korrelat dieser Überlegung ist der Lorenz- Attraktor, ein von Lorenz in den sechziger Jahren veröffentlichtes Konzept, das auch in den Biowissenschaften zur Beschreibung komplexer Modelle eingesetzt wird. Hierbei konkurrieren zwei energetisch mögliche und stabile Zustände miteinander, wobei der Übergang vom einen zum anderen ‚chaotisch’ ist, d.h. nicht im Detail vorhersagbar – Lorenz war Meteorologe.

Folgt man diesen Überlegungen, so sollte man danach streben, ein fehl-stabiles System so ‚aus dem Gleichgewicht zu bringen’, dass es die Chance erhält, sich wieder in dem gewünschten idealen Zustand einzuschwingen. Dazu ist es sinnvoll, dass der eingesetzte Input stark genug ist, um das pathologische Pseudo-Gleichgewicht zu überwinden (und vorzugsweise in die Richtung des zu erreichenden neuen Gleichgewichtspunktes wirkt) und andererseits dem dann aus der Balance geratenen System genug Zeit lassen, um sich auf diesem neuen Punkt einzuschwingen. In extremis ist die Richtung der Irritation nicht entscheidend (wenngleich es unmittelbar einleuchtend ist, dass eine sorgfältig geplante Behandlung einer ungezielten Irritation vorzuziehen sein dürfte); entscheidend ist vielmehr, nach diesem aus-dem-Gleichgewicht-bringen keine weiteren Störungen zuzulassen. Der Stoß, soll er die gewünschte Wirkung nach sich ziehen, muß gut dosiert sein. Die Energie sollte so groß sein, dass das initiale fehl- Gleichgewicht überwunden wird, aber nicht so stark, dass die Etablierung des neuen, gewünschten Gleichgewichts allzu sehr erschwert wird.

Stoßtherapien sind ein etablierter Bestandteil klassisch medizinischer Konzepte, zum Beispiel in der Psychologie oder Immunologie in Form der Desensibilisierung. In beiden Fällen wird der Patient mit der Ursache einer manifesten Störung in kontrollierter Form konfrontiert, um zu ‚lernen’, mit dieser Störung umzugehen. Diese Therapie scheint im Übrigen besser bei Phobien (Spinnen, Höhenangst etc.) zu wirken als bei der Desensibilisierung von Allergikern, was dafür spricht, dass noch andere Modalitäten bei letzterem eine Rolle spielen. Was diese Desensibilisierung aber in beiden Fällen zeigt ist, dass das Netzwerk des Organismus sich traumatischer Ereignisse ‚erinnert’ und bei günstigen Rahmenbedingungen durchaus in der Lage sein kann, aus dem pathologischen in das ideale Gleichgewicht zurückzuschwingen.

Eine der Prämissen subtiler Therapie ist also, dass sich der Organismus mit seinem gesamten Netzwerk – Zentralnervensystem, muskuloskelettaler Apparat, endokrines System, Bindegewebe, Metabolik, etc., pp. – an durchgemachte Krisen erinnert und diese Erinnerung im Gesamtsystem so abgelegt ist, dass sie ein pathologisches Gleichgewicht stabilisieren kann. Manualmedizin in ihrer subtilen Form kann als ein Wiederaufgreifen dieses Traumas unter kontrollierten Bedingungen aufgefasst werden – ähnlich einer Desensibilisierung. Diese Wieder-Erinnerung an das initiale Trauma rüttelt den Organismus auf und ermöglicht ihm so, zum alten, idealen Gleichgewicht zurückzukehren. Es ist also ganz wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu finden und die korrekte Dosierung der zu verabreichenden Irritation. Fast genauso wichtig ist es, dem Organismus dann genügend Zeit und Ruhe zu lassen und die Einschwingzeit nicht zusätzlich zu stören.

Robuste Therapien sind oft skalierbar: Helfen zehn Tropfen nicht, nimmt man eben zwanzig. Subtile MT ist sehr dosisempfindlich und abhängig davon, dass das therapeutische Umfeld stimmt. Lewit vergleicht sie mit der Behandlung von Softwarefehlern und schreibt lapidar, dass dieser „funktionelle Therapieansatz viel schwieriger ist“ – aber eben auch ungleich lohnender.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei Konsequenzen:

Zum einen ist deutlich, dass es bei subtiler MT nach der initialen Irritation durchaus zur Verstärkung der Symptomatik kommen kann. Diese ‚Erstverschlechterung’ ist ein altbekannter Bestandteil systemisch ansetzender Therapien;  man ist als Therapeut gut beraten, früh auf diese Möglichkeit hinzuweisen.

Zum Zweiten sind diese Therapien sehr kontext-sensibel. Das beginnt mit der Rolle des Therapeuten und erstreckt sich über die verabreichten sonstigen Behandlungen bis hin zum zeitlichen Abstand, der nötig ist für die Evaluation des Ergebnisses

Auch wenn man sich als Therapeut bei MT auf den mechanischen Aspekt konzentriert, spielen andere Ebenen eine wichtige Rolle. Das geht von der interpersonellen Kommunikation bis zu den unserer Beeinflussung meist entzogenen metabolischen und sozialen Faktoren. Eine ‚heilsame’ Umgebung zu fördern ist essentieller Bestandteil besonders dieses Therapieansatzes – und eine der am einfachsten zu realisierenden Hilfen ist die ‚therapeutische Ruhe’ vor und nach subtiler MT. Es ist absolut nicht nötig, für die Behandlung einer blockierten Rippe derartige Vorsorge zu treffen, handelt es sich um die Therapie eines KiSS-Kindes oder eine MT oder auch nur Begutachtung nach HWS-Trauma spielt die Wahl des Zeitpunktes und der Umgebungsvariablen eine große Rolle.

Es ist nicht immer einfach (oder nötig), streng zwischen diesen beiden Formen der MT zu unterscheiden. Je jünger der Patient, je näher das Trauma und je dichter die Behandlung an den beiden Wirbelsäulenpolen Kopfgelenke und lumbo-sacraler Übergang, desto sorgfältiger sollte man auf Abstand zu anderen (mechanischen) Irritationen achten und auf verzögerte Reaktion des Organismus bis hin zu Erstverschlechterungen vorbereitet sein – und dies den Patienten und Familien vorab vermitteln.

Es ist unmöglich, die komplexe Realität der Arzt-Patient Interaktion mit einem noch so eleganten Modell hinreichend zu beschreiben. Es können immer nur bestimmte Aspekte betrachtet werden, der in einem definierten Kontext wichtig erscheinen. Legt man diese Überlegungen zugrunde, ist die Manualmedizin in vielen Fällen mehr als nur eine weitere Technik im Repertoire.

Sie ist in Teilen durchaus mit ‚robuster’ Therapie vergleichbar, wie bei den meisten Extremitätenbehandlungen oder Manipulationen im thorakalen oder lumbalen Abschnitt. Subtile Manualtherapie andererseits, die an den beiden Übergangsregionen des Achsenorgans ansetzt, erfordert ungleich mehr Sorgfalt, Engagement und Geduld. Sie wirkt auf das gesamte Netzwerk des ‚intelligenten Organismus’ und ist konsistent mit den Erkenntnissen der Komplexitätstheorie.

Gerade bei Kindern mit ihren noch nicht verfestigten neuro- muskulären Automatismen scheint die subtile Therapie quantitativ ­­und qualitativ einen weit breiteren Raum einzunehmen als bei Erwachsenen; um so mehr muß man sich bei ihrer Behandlung darum bemühen, diesen recht komplizierten Zusammenhängen Rechnung zu tragen.

Für die vielfältigen Effekte manueller Therapie gerade in solchen Fällen gibt es kein einfaches Modell, aber wir hoffen, dem näher gekommen zu sein.

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