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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Was die Mehrsprachigkeit mit uns macht …

Ein gutes Funktionieren der Kopfgelenke ist wichtig für eine reibungslose Sprachmotorik und eine verständliche Aussprache – – weniger für das Begreifen. Wenn man also merkt, daß ein kleiner Mensch zwar +- alles versteht, aber mit dem Sprechen seine Schwierigkeiten hat, liegt es nahe, an der Halswirbelsäule ‚aufzuräumen‘, zumal wenn andere Details in der Anamnese an Funktionsstöruungen da denken lassen.
Oft können wir so den Logopäden und Spracherziehern bei der Arbeit helfen; so nimmt es nicht Wunder, daß wir relativ viele Vor- und Grundschulkinder sehen, die sprachmotorisch Probleme aufweisen. Dabei kommen wir heutzutage sicher bei jedem zweiten Kind mit Familien zusammen, die zwei oder mehrere Sprachen im Repertoire haben.
Im Falle der hier abgebildeten drei ist das eine Mama mit indisch/persischen Wurzeln aus Deutschland und ein Bretone. Also das volle Programm für den kleinen Knaben in der Mitte. Nicht selten bekommen die Eltern dann den Rat, ihr Kind einsprachig zu erziehen.


Ganz abgesehen davon, daß Muttersprache eine emotionale Komponente hat, und gerade für die Mamas nicht einfach so gewählt werden kann, ist es ein Fehler zu glauben, daß man dem Nachwuchs den Spracherwerb leichter macht, wenn man sich auf eine Sprache beschränkt. Natürlich ist zu diskutieren, ob man den Knaben auf dem Foto mit Deutsch, Farsi, Urdu, Französisch und Bretonisch auf einmal konfrontieren sollte, aber drei Sprachen sind kein Problem.
Wir vergessen heutzutage, vor allem, wenn wir mitten in einem großen Sprachgebiet leben, daß Mehrsprachigkeit in vielen Teile der Welt die Regel ist, und auch bei uns vor 2-3 Generationen verbreitet war. Der Dialekt, vielleicht noch jiddisch oder benachbarte Mundarten, und dann die Hochsprache in der Schule; das war die Regel. Wer vor hundert Jahren in Triest, Saloniki oder Istanbul lebte, hatte griechisch, italienisch, slovenisch, kroatisch und vielleicht noch armenisch im Programm; und man braucht auch heute nur in Lagos oder Mumbai zu leben, um mit einer Sprache allein nicht weit zu kommen.
Wieder und wieder machen wir Agit-Prop für Mehrsprachigkeit, und für das Pflegen der Herkunfts- Sprache der Eltern. Wenn keine Abwehrhaltung gegenüber Deutschlands Kultur und Gewohnheiten vorherrscht in der Familie, lernen die Kleinen deutsch ruck-zuck im Kindergarten, auch wenn sie in der Anfangszeit nur russisch oder türkisch hören zu hause. Und noch praktischer ist es, wenn der eine Elternteil z.B. Polnisch, der andere Deutsch mit dem Nachwuchs redet. Dann sind nicht nur diese beiden Sprachen gebahnt, sondern die Haupthürde des Erwerbs der zweiten Sprache wird fast automatisch schon in jüngsten Jahren genommen; weitere Sprache später zu lernen, fällt dann ungemein viel leichter.
Die Aussage mancher Kindergärtnerinnen oder Logopäden, nur eine Sprache zu nutzen sei besser (z.B. deutsch), spiegelt nicht den Stand der Forschung wider, die leider lange Jahre von Einsprachigkeit als Normalzustand ausging; und meist sind es auch einsprachige ‚Spezialisten‘, die dieseEinseitigkeit empfehlen
Um so erfreulicher ist es, hier nun eine Argumentationshilfe an die Hand zu bekommen. Viorica Marian (vgl. Buch-Abb. re.) ist in Moldavien groß geworden, wo sie mit moldawisch, rumänisch und russisch in Berührung kam. Heute in den USA Dozentin, hat sie einen Niederländer geheiratet und publiziert auf englisch, und die vielen anderen Sprachen, die sie sonst noch ‚drauf hat‘ wollen wir mal nicht ausbreiten; da wird man neidisch.

Wenn sie sich zum Thema Mehrsprachigkeit zu Wort meldet, kann man also davon ausgehen, daß da jemand spricht, der etwas davon versteht. Zumal sie in ihrem Institut (hier) bienenfleißig zum Thema Mehr- und Vielsprachigkeit forscht, seit vielen Jahrzehnten.

„„Das verbreitete Vorurteil, Zweisprachigkeit habe negative Konsequenzen, ist in letzter Zeit nicht nur widerlegt worden, sondern wurde durch Erkenntnisse ersetzt, daß sie später lebenslange Vorteile für die so groß gewordenen Kinder zur Folge hat. Das schließt eine Reihe von Wahrnehmungs- und Klassifizierungsaufgaben, begreifende Flexibilität und meta- kognitive Fähigkeiten ein.““                                         (Zitat V. Marian, übers. HB).

Dem ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen; im ersten Teil des Buches geht sie auf die individuelle Situation ein, um dann im zweiten Abschnitt die gesellschaftliche Ebene zu beleuchten; beides mit einer Fülle von Literatur belegt.
Jeder Familie, die sich zu diesem Thema Gedanken macht, sei dieses Buch empfohlen. Es ist – bis jetzt – nur auf Englisch und Niederländisch erschienen, aber die Deutsche Übersetzung dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

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