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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Symptom <-> strukturelle Ursache am Beispiel der Redression

Es gibt Traditionen, die werden in bestimmten Fachgebieten der Medizin von Generation zu Generation weitergegeben ohne dass viel darüber nachgedacht wird.

Lewit sagte mir vor Jahren mal bei einem Spaziergang „ Wenn Du was gefunden hast, was in allen Lehrbüchern steht, weil es einer vom anderen abschreibt, kannst du relativ sicher sein, dass es falsch ist und es sich lohnen würde, da ein Forschungsprojekt dranzusetzen.“

Eine der ‚Wahrheiten‘ in der orthopädischen Behandlung ist die Redression. Schon bei Andry de Boisregard, dem Namensgeber der Orthopädie, ist das berühmte Bäumchen abgebildet, dessen krummer Stamm mit einem Stock und dem daran befestigten Strick gerade gezerrt wird. Dieses Bild ziert unzählige Briefköpfe und Logos orthopädischer Kliniken und Praxen. Die Lieblingswaffe mancher Kollegen ist immer noch die Einlage, gut für&gegen alles, was einem so orthopädisch unterkommt.

So ist es für die meisten Orthopäden ein fast ununterdrückbarer Reflex, zu ‚begradigenden‘ Mitteln zu greifen, sobald etwas krumm, asymmetrisch oder einfach nicht so ist, wie man es sich wünscht. Man kann auch nicht absprechen, dass mit diesem Ansatz Ergebnisse erzielt werden. Die Glieder werden gerade, die Füße stehen anders in den Schuhen. Aber bitte nicht die Einlagen raus nehmen – dann ist das alte Elend meist wieder da.

Wenn man sich fragt, was langfristig dabei rauskommt, wird das Ganze kompliziert. Es ist inzwischen relativ unbestreitbar, dass die zig-tausenden Einlagen, mit denen  wir Älteren vor Jahrzehnten während unsrer Wachstumsjahre traktiert worden waren, meist nicht viel gebracht haben. Viele Krummheiten (zum Beispiel die Säbelbeine etlicher Kleinkinder in der ersten Lauflern-Phase) regeln sich von selber, ob mit oder ohne begleitende Therapie. Beides kein Drama, aber Mittel werden verschwendet und die Kinder-Patienten unnötig geärgert. Das ‚aggressive Abwarten‘ als Therapieansatz sollte immer als Behandlungsvariante im Blick behalten werden.

Auch die zur Zeit von manchen Kollegen favorisierten ’sensomotorischen‘ Einlagen konnten uns nicht überzeugen – und schon wegen ihres exorbitanten Preises sollte man da die Latte der Erwartungen da recht hoch legen. Unsere Füße sind halt enorm lernfähig und erinnern sich an das, was ihnen am Vortag angetan worden war. Wäre es anders, könnten Prada & Co. zumachen, da die Damen diese Misshandlung ihrer Anatomie nicht ertrügen. Aber das dient der Schönheit und ist – bei Erwachsenen – ‚jedem sein Sach‘, wie man in meiner schwäbischen Heimat gesagt hätte.

Bei Erwachsenen sind Einlagen auch grundsätzlich anders zu bewerten als bei Kindern. Da steht man oft genug einer Situation gegenüber, die eben nicht mehr geändert werden kann, und dann kann eine gut angepasste Unterstützung des irreversibel verformten Fußes  durchaus die Lebensqualität steigern – wenn man nicht zu einer Operation raten muß.

Bei Kindern sollte das wenigen Spezialfällen vorbehalten bleiben. Ein reiner Höhenausgleich zur Korrektur einer Fehlstatik ist übrigens oft sinnvoll, als flache Sohle von meist um die 5mm. Genauso sind die Redressionen bei den Klumpfüßen Neugeborener oft sehr wirksam. Auch die Unterstützung der Hüftentwicklung durch entsprechende Apparate kann sinnvoll sein – man muß von Fall zu Fall genau hinschauen  – und als funktionell Denkende sieht man sich nachher Hals und Nackenmuskeln an, die ja bei allen Bandagen schwer in die Pflicht genommen werden; nicht selten braucht der Kopfgelenkbereich dann eine gezielte Hilfe.

Ein durchaus komplexes Thema, das man nicht über einen Kamm scheren kann&sollte. Es ist eigentlich wie fast immer in der Medizin: ein an sich gutes Heilmittel wird oft durch unkritischen Einsatz diskreditiert.

Schlimm ist, wenn Symptom mit Ursache verwechselt wird und man meint, durch das Beseitigen der auffallendsten Erscheinung das Problem gelöst zu haben. Dafür haben wir zur Zeit ein sehr passendes Beispiel: die Schädelasymmetrie.

Hier wissen wir seit etlichen Jahren, dass Plagiocephalie/Earshift/Schädelasymmetrie in über  98% der Fälle durch eine fixierte Fehlhaltung der Neugeborenen verursacht wurde, Die noch sehr formbaren Knochen der Säuglinge reagieren auf ‚unsachgemäße‘ Nutzung, d.h. die Vermeidung bestimmter unangenehmer Kopfhaltungen, schnell mit Anpassung. Das führt rapide zu knöcherner Asymmetrie. Entweder kommt das Kind dann schon mit Schädelasymmetrie zur Welt (es begann intrauterin) oder diese bildet sich in den ersten Wochen heraus, wenn v.a. das Geburtstrauma der Auslöser war.

Seit Jahren wird den Eltern in zum Teil fragwürdiger Form suggeriert, diese Asymmetrie allein führe zu allen möglichen Störungen und Problemen, müsse also schnellstmöglich beseitigt werden. Dazu wird dann ein redressierender Helm avisiert.Als finaler Fehlschluß wird dann manchmal noch zu Dehnübungen geraten, ‚um die verkürzten Muskeln zu lockern‚. Genau so ein Fehlschluß wie der Helm; der forcierte Muskel wird sich fast immer nach der Behandlung um so mehr verkürzen als Reaktion auf die Provokation. Wenn man den arthrogenen Reiz ausschaltet entspannt er von selbst. Zig-tausend Mal verifiziert…

Der volkswirtschaftliche Aufwand wäre, so dies den Kinder helfen würde, überhaupt kein Problem. Aber es wird das Symptom mit der Ursache verwechselt – wir sind darauf mehrfach eingegangen (siehe z.B. hier). Man ruft mit derlei Stellungnahmen durchaus heftige Reaktionen hervor, wie die Kommentare zu diesem Beitrag zeigen. Bei Lagerungs- Kissen handelt es sich noch um eine relativ harmlose Geschichte; die Babys ‚lösen‘ das Problem meist dadurch, daß sie eben nicht brav drauf liegen bleiben.

Viel schlimmer ist das Propagieren der Helm- Orthesen, sowohl was die entstehenden Kosten, als auch was die Behelligung der Kinder und die Beunruhigung der Eltern angeht (Stellungnahme hier). Es sei nicht verschwiegen, dass unserer Erfahrung nach eine bestimmte Sorte Eltern hier besonders gefährdet ist, diesen Heilsversprechungen auf den Leim zu gehen: diejenigen, die sehr viel Wert auf die äußere Form legen und unsicher sind. Man muß versuchen, sie zu überzeugen und ihren Zuvertrauen geben; das gelingt nicht immer. Wir sehen immer wieder Schulkinder, die als Baby mit einem Helm versorgt wurden. Der Kopf ist zwar rund, aber die zugrundeliegende vertebragene Funktionsstörung wurde nicht beseitigt, und kann sich Jahre später noch auswirken.

Das Herstellen der richtigen Umgebungsbedingungen für den heranwachsenden Organismus ist ein altes Prinzip ärztlichen Handelns. Schon Pschyrembel wies darauf hin, dass „man in der Geburtshilfe viel wissen muß, um wenig zu tun“ – das gilt auch für die meisten anderen Sparten der Heilkunde, und heute mehr denn je.

Das Warten und behutsame Unterstützen braucht Zeit, Geduld und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Familie und Therapeuten.

Wir arbeiten dran.

Fazit: Alles, was von außen zieht und drückt, will, vor allem bei Heranwachsenden,  zurückhaltend eingesetzt werden und sollte nur dann und so lange zum Zuge kommen, wie aktivierende, und Ursachen beseitigende, Maßnahmen nicht greifen. Wird ein Symptom (Knickfuß, Schädelasymmetrie) mit der strukturellen Störung verwechselt (Tonusstörung der Muskulatur, Blockierung der Kopfgelenke) kann man vielleicht den Anschein verschönern, aber das darunter liegende Problem wird sich früher oder später wieder  bemerkbar machen.

Dann ist Zeit verloren, Geld und Mühe verschwendet und Heranwachsende sind unnötig geärgert worden.

 

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