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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Vom Wiegen wird die Sau nicht fett.

Sagen die Landwirte – zurecht.

‚Musterkinder‘ aus dem Katalog (London Ill. 1889)

Albert Einstein meinte mal:

Nicht alles was gezählt werden kann zählt, und nicht alles was zählt, kann gezählt werden‚.
Nicht nur die Schweinchen unserer Landwirte werden viel gewogen, auch unsere Schulkinder werden links & rechts getestet, eingeordnet, ge-rankt, aussortiert.

Man denke nur an Pisa & Co., den ‚holy grail‚ vieler Pädagog:innen. Hier kommen das Kausalitätsbedürfnis der Familien und die berechtigte Sehnsucht des Behandlers nach klaren Leitlinien zusammen. Das ist alles aus ehrenwerter Motivation angestoßen.

Man muß nur aufpassen, daß die Diagnose nicht dann die anschließende Behandlung erschwert, da der Blick zu sehr verengt ist. Fast nie gibt es nur eine Ursache, eine Diagnose. Und gerade die Familien- Konstellation und das Funktionelle werden noch immer viel zu sehr in ihrer langfristigen Wirkung unterschätzt.

Das Wiegen als Selbstzweck ist aber milde gesagt fragwürdig, uns spätestens dann, wenn man mal erlebt hat, wie gewisse darauf aufbauende Diagnosen bei den Familien ‚einschlagen‘, muß man sich fragen, was hinter dieser Sucht nach Zählbarem steckt.

Hat man – wie wir – viel mit Heranwachsenden und ihren Schulschwierigkeiten zu tun, dann kennt man die Briefe vieler  SPZ (Sozial Pädiatrische Zentren): mindestens 4 Seiten, alle Tests haarklein aufgelistet und die Ergebnisse mit den Normwerten verglichen incl. prozentuale Abweichung von dieser Norm, auf 2 Kommastellen genau. Und unten drunter 3-5 Unterschriften der diversen Ärzte und Psychologen bzw. Therapeuten. ‚Wenn es der Wahrheitsfindung dient‚ – möchte man dazu mit Fritz Teufel selig sagen – und dies bezweifeln.  Schon das Mathe- Genie Gauss sagte schon im 18. Jhd.: „Der Mangel an mathematischer Bildung gibt sich durch nichts so auffallend zu erkennen, wie durch maßlose Schärfe im Zahlenrechnen.

Misst man den Blutdruck in der Praxis, kaum dass der Patient reingekommen ist, bekommt man keinen vertrauenswürdigen Wert. Wenn ich einen psychologischen oder kognitiven Test mache, und das Kind findet den Untersucher blöd, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn das Ergebnis unterdurchschnittlich ist. Kürzlich war eine Mutter mit ihrem Knaben bei mir, den sie im halben Jahr vorher dreimal hatte testen lassen. Der IQ variierte zwischen 105 und 121. So viel zu Exaktheit und zur zweiten Kommastelle…

Wir brauchen Metrik bei unseren Diagnosen. Wir sind froh, gewisse Fakten auch mathematisch irgendwie abbilden zu können; aber wir müssen uns immer darüber im Klaren sein, dass jegliche Diagnostik die Realität vereinfacht, sehr vereinfacht. Und – was noch viel wichtiger ist – jedwede Diagnose, die wir den Betroffenen und deren Familien mitteilen, wirkt wieder auf diese Realität zurück. Es gibt keine Diagnose ‚umsonst‘. Wenn Eltern eines Säuglings mit schiefem Kopf zu uns kommen und wir messen das mit Computer und 3D-Technik – und drucken das farbig aus mit ‚Earshift‘ in mm –  hat das andere Konsequenzen als wenn wir dem Kind über den Kopf streichen und sagen „Ja, der ist schief, aber das bekommen wir hin!„.

Do I hear the word   ‚Marketing‘?  –  bei manchen dieser Diagnoseprozeduren schleicht sich der Verdacht ein, dass damit einer gewissen Dramatisierung des Befundes zumindest nicht aktiv entgegengewirkt werden soll. Das ist um so schwerer zu ertragen, wenn dem einen (Laie, Eltern) das eine, dem anderen (Kollege, Kollegin) das andere erzählt wird.

Exakt dasselbe passiert bei den Tests der Schulkinder. Ich habe mich oft gefragt, was aus mir wohl geworden wäre, würde ich heute die Schulbank drücken. Zu meiner Zeit in den 50gern und 60gern ‚war der Heiner halt ein wildes Kind‚, unruhig und immer alleine sitzend, da seine Bank-Kameraden zu sehr vom Unterricht ablenkend. Heute: sicher ADHD, wohl auch Dyslexie und warum nicht noch eine Wahrnehmungsstörung obendrauf?! Da ist man schnell am Medikamentenschrank.

Ganz schlimm auch, wenn diese Ergebnisse von Tests in die Schulakten geraten. Man ist an Joseph Hellers Catch-22 erinnert: wenn man dann mal eine gute Note für die Klassenarbeit bekommt, ist es ein Ausrutscher, der  erwartete Normalfall ist das Versagen. Und eine Fülle pädagogischer Literatur warnt davor, daß diese Beurteilung einzelner Schüler&innen immer weiter gegeben wird und sich mehr und mehr verfestigt.

Und Eltern denken, es wäre für die Kinder von Vorteil, wenn jeder wüßte, dass sie ‚hochbegabt‘ sind und/oder einen IQ von über 130 haben. Weit gefehlt! In der Regel ist es genau so ungut, oben aus dem Durchschnitt rauszuschauen, wie unterhalb zu sein.

Mitte ist Trumpf!

Wir sollen und wir müssen testen und versuchen, uns ein möglichst exaktes und reproduzierbares Bild von den uns anvertrauten Kindern zu machen. Auch und nicht zuletzt, um die Ergebnisse vergleichbar zu machen. Aber man hüte sich vor dem unkritischen Anbeten generierter Zahlen und der Überfrachtung dieser Daten mit Auswertungen, die diese nicht hergeben.  Die erzielten Ergebnisse sinnvoll kommunizieren und in ihrer Relevanz korrekt einordnen ist mindestens so wichtig wie sie überhaupt zu erheben. Eine gewisse Subjektivität ist da unvermeidlich; sie sollte immer zum Vorteil des Kindes geraten. Bei solch komplexen Diagnosen kann man sich nicht hinter ‚exakten‘ Meßwerten verstecken.

Das ist ein Grund, warum wir uns bemühen, Arztbriefe von mehr als 2 Seiten zu vermeiden. Man muß nicht jeden Krümel, den man gefunden und angeschaut hat auch noch beschreiben. Es liest ‚eh kaum einer und man präsentiert eine Vielfalt von Informationen und Daten, die oft nur dokumentieren sollen, wie fleißig man war. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich Mancher nur das herauspickt, was ihm ins Konzept paßt und den Rest ‚vergißt‘.

Oder, wie Woody Allen es mal sagte: „Ich messe mir viermal am Tag meine Temperatur und meine Frau hat all unsere Kinder ohne Thermometer großgezogen!“

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