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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Wie die schwierigen Jungs zahm gemacht werden

Eigentlich ist es ja erschütternd, dass manche kontroversen Diskussionen nicht (mehr) in der medizinsichen Fachpresse angestoßen werden, sondern von außen an uns herangetragen werden. Die massiv zunehmende Verschreibung allerlei psychoaktiver Substanzen an Kinder und Heranwachsende gehört dazu. Medikalisierung 'wilder Jungs'Nun ist ja weiß Gott nicht alles, was da aus den Publikumszeitschriften kommt, die reine Wahrheit. Wir haben selber oft genug unter unsachlichen und polemischen Auslassungen gelitten (vgl. z.B.Die ’schiefen‘ Argumente des SPIEGEL ). Aber es ist nicht zu bestreiten, dass da oft berechtigte Fragen laut werden.

Zum Jahresanfang 2012 erschien in der FAS ein Artikel zum Thema, den man nur weiterempfehlen kann , in dem kurz und bündig steht „Ritalin ist eine Pille gegen eine erfundene Krankheit, gegen die Krankheit, ein schwieriger Junge zu sein“ – dem kann ich aus eigener leidvoller Erfahrung nur zustimmen (Artikel hier).
Prompt kam übrigens zwei Tage später eine ‚Richtigstellung‘ durch einige Pädiater (ADHS ist real – Ärztezeitung). Im eigenen online- Dienst wird da immerhin ein Fragezeichen drangehängt. Im Sommer 2011 hatte Susanne Donner im ‚Freitag‘ ähnlich wie der FAS- Artikel argumentiert und wies auf Ian Wong (Univ. London) hin, der ‚mutmaßt, dass das Gehirn durch die Stimulantien so verändert wird, dass ADHS- Kinder auch als Erwachsene Medikamente brauchen“(ADHS-Medikation hilft nicht langfristig).

Ich hatte als ‚wilder Junge‘ das Glück, diese schwierige Phase in den fünfziger und sechziger Jahren durchzumachen. Da gab es keine Pillen. Meine Mutter erzählte mir später, im Kindergarten hätten sie mich immer auf den Schrank gesetzt, damit ich die anderen nicht störe. Undenkbar heute! Könnte ja runterfallen, der Knabe! Was sagt da der Sicherheitsbeauftragte!?

Man kann das (fast) beliebig weiterspinnen. Unterm Strich wird man traurig, wenn man seine Leidensgenossen zwei Generationen später jeden Tag vor sich sitzen hat. Schon das Festlegen (in doppelten Wortsinne) der Diagnose erschwert eine andere Sichtweise – vom sozialen Druck ganz abgesehen. Ich erinnere mich an eine Kollegin, die mit ihren beiden Jungs bei mir war. Einer hatte schon Methylphenidat. „Wenn der andere noch ’ne fünf schreibt bekommt er auch Ritalin“ sagte die Mutter so im Vorbeigehen…

Mit den Amphetaminen verhält es sich wie mit allen stark wirksamen Medikamenten: wir sind froh dass wir sie haben. Aber genau wie bei Antibiotica, Cortison, Beruhigungsmitteln etc. pp. wird massiv gesündigt von Ärzten und Patienten und diese Mittel zum großen Teil nicht sinnvoll eingesetzt. Keiner kann mir erzählen, dass es normal ist, dass wir heute die 50fache Menge an Methylphenidat im Vergleich zum Beginn der 90ger Jahre schlucken lassen (1993: 34kg, 2012: 1960kg; Quelle: Bundes-Opiumstelle). Dieser Knabe hat seine Medikation in der Hand..

Aus der Schweiz wissen wir, dass im Tessin nur 1/5 dessen verordnet wird, was in den deutschschweizer Ballungsgebieten für notwenig gehalten wird (Ritalinstatistik Schweiz). Auch das sollte einem ja zu denken geben. Wenn man alle pflegeleicht macht und jedes ’störende‘ Verhalten wegbügelt, wo kommen wir dann hin? Wir brauchen die wilden Kerle und ihre Aufsässigkeit, auch wenn es manchmal für deren Umgebung schwer ist. Wieviel liegt am Umfeld, an den Rahmenbedingungen? Der Junge links auf dem Foto brachte seine Medikation zu mir mit: Concerta, Medikinet, Ritalin im Potpurri – the full monty.

Viele dieser Kinder haben Wahrnehmungs- Probleme und viele von denen ‚habens am Hals‘ – wie eine Mutter mir sagte. Wenn die Vorgeschichte paßt, wenn Dinge wie Fehlhaltungen, Ungeschicklichkeit etc. dazukommen ist es meines Erachtens immer einen Versuch wert. Niemand von uns ist so verblendet zu behaupten, Manualmedizin könne all diesen Kindern helfen. Aber wenn man nur einem Drittel oder Viertel die Medikamente ersparen kann ist es den Versuch wert.

Man wird das nie ganz sauber statistisch aufarbeiten können, aber wir verfügen über hunderte Einzelfallbeschreibungen, die in eben diesen Einzelfällen auch den Erfolg dokumentieren. In unserer Monographie haben wir den Kennnisstand zusammengestellt; hier kommen auch etliche Kollegen zu Wort, die – z.T. aus kinderneurologischer Sicht – diese Erfahrungen bestätigen (H.Biedermann (Hrsg.): Manuelle Therapie bei Kindern. Elsevier, 2006).

Das Ergebnis unserer Therapie ist auch bei ‚passender‘ Problemlage nicht 1:1 vorhersagbar, aber man weiß schnell, ob es klappt oder nicht; nach einem Kontrolltermin ist klar, ob Weitermachen sinnvoll ist oder nicht. Nach all den Jahren kann man sicher sagen, dass der Aufwand (Anamnese, Röntgenbild, Behandlung & Kontrolle 2-3 Monate später) absolut vertretbar ist. Und ich bin froh und stolz bei jedem Kind, dem wir die Dauereinnahme dieser starken Medikamente ersparen konnten.

Der französische Schriftsteller Daniel Pennac beschrieb die ‚Karriere‘ des Schulversagers – seine eigene – in einem phantastischen Buch chagrin d’école (deutsch: Schulkummer). Er betont, dass solch ein ‚cancre‘, ein wie eine Krabbe immer nur seitwärts ausweichender Schüler verloren gehen kann, wenn nicht, ja, wenn nicht ein paar wenige (Lehrer) an ihn glauben und ihn aus seinem Elend ziehen. Ich kann dieses Buch nur wärmstens all den Eltern empfehlen, die mit ihrem Nachwuchs Vergleichbares mitmachen.

Jaques Prévert hat ein anarchistisch-schönes Gedicht über diesen ‚Cancre‘ (hier) geschrieben. Die deutsche – längst nicht so schöne – Übersetzung finden Sie im FAS.- Artikel, auf den oben verwiesen ist.

 

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