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H. Biedermann
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Diagnosen zwischen Intuition und EBM

Eine der wichtigeren Fragen des klinischen Handelns ist, ob man ein erkanntes Phänomen als Symptom oder als Diagnose wertet. Das hat enorme Auswirkungen auf die Lösungswege. Sowie  z.B. eine Hyperaktivität nicht mehr als Diagnose akzeptiert wird muß dem weiter nachgegangen werden. So kommt man dann in der Regel auf ein Netz von Ursachen, die eine viel differenziertere Analyse erfordern als wenn man sich mit ersterem Begriff zufrieden gibt. Aber man hat dann ganz andere Lösungsansätze in der Hand…

Gerade die Orthopädie ist voll mit derartigen Phänomenen: Wenn ich einen Schulterschmerz nicht mehr als Endziel meiner nosologischen Analyse ansehe macht es auch wenig Sinn, da einfach mit einer Cortisonspritze drauf loszugehen. ‚Nuchalgie‘ – eben in einem Arztbrief als Diagnose gelesen – wird dann mit einer Wertigkeit belegt, die ein Weitergreifen der diagnostischen Überlegungen zumindest erschwert.

Aus der Mathematik wissen wir, dass es finite Lösungen nur für Probleme mit maximal zwei Variablen geben kann. Sowie wir also zulassen, dass eine klinische Problemanalyse mehr als diese beiden Parameter zu berücksichtigen hat verabschieden wir uns automatisch von rigide verifizierbaren Lösungen. Wenn man statt ‚Schulterschmerz‘ ‚Cervico- Brachialgie bei CMD und Fehlstatik‘ schreibt hat man zwar in der Regel einen besseren Lösungsansatz, aber eben auch eine Multikausalität, die eine Evidenzierung sensu stricto faktisch unmöglich macht.

Will man diese Lösungsansätze überprüfen in Kenntnis der Multikausalität des Geschehens, müßte man entweder solch riesige Fallzahlen aufbieten, dass sich das weiße Rauschen rausrechnen läßt (meist deutlich mehr als 500 Kasuistiken), oder man engt die Kriterien so weit ein, bis eine ’schöne‘, da homogene Gruppe dabei herauskommt, dann aber mit einer Aussage, die für die praktische Arbeit weitgehend irrelevant ist.

So kommt es, dass fast die einzigen ‚evidenzierten‘ Maßnahmen in der Orthopädie relativ grobe Klötze auf Sachverhalten sind, die man eigentlich eher als Symptom betrachten sollte, also z.B. Cortison-Injektionen bei Schulterschmerz. Dann wird verzweifelt versucht, manualmedizinische Therapien evidenzierbar zu machen, was eben aus oben genannten Gründen fast unmöglich ist.

Dem steht die – gut zusammengefaßte – Kasuistik gegenüber, deren Wert für den Erkenntnisgewinn sehr unterschätzt wird. Am Ende einer klinischen Untersuchung wird der Erfahrene sich für seine Diagnose immer auch durch den Vergleich mit vielen anderen ähnlichen inspirieren lassen. Keine ‚clinical Guideline‘ kann das ersetzen.

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