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H. Biedermann
Literaturliste & Kongreßbeiträge (Auswahl)

Viel hilft viel?

Studiert man historische Publikationen auch zum Thema physikalische Medizin, ist man oft verblüfft, welch massive Mittel da eingesetzt wurden.Als Beispiel hier ein Klassiker, der ca. hundert Jahre auf dem Buckel hat (Cyriax). Man könnte hier eine Sammlung von Abbildungen zeigen,  von Menell, Bum, Schanz, Nägeli (noch hundert Jahre älter),  bis man dann im 18. Jhd. bei Andry und anderen Renaissance- Autoren landet.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich als junger, eben fertiger Assistent meinem Vater (Manualmedizin- Pionier) zuschaute, und dabei ganz panisch wurde. Da wurde mit Kräften gearbeitet, die man, gerade in den aktuellen Techniken unterwiesen, nur mit Erstaunen sah – noch dazu, da die Patienten es anschneidend tolerierten.

Bei einem Erfahrenen kann das gut gehen, bei einem Anfänger ist Zurückhaltung der erste Rat. Gerade bei jungen Ärzten kommt dann nicht selten eine gewisse Ungeduld dazu. Einem Gärtner ist klar, daß nicht jedes Düngen im nächsten Moment ein Resultat zeigt; in unserer hektischen Zeit und bei den vielen modernen Medikamenten, die in der Tat +- sofort wirken, ist die nötige Geduld oft Mangelware.

Ein altes Bonmot sagt: „Ein junger Arzt hat für jede Krankheit zehn Medikamente, ein alter Arzt behandelt zehn Krankheiten mit einem Medikament.“ Ähnliches gilt auch in unserem ‚Jagdgebiet‘, der physikalischen bzw. manuellen Medizin.

Natürlich ist man, wenn man gerade eine Fortbildung besucht hat, voll von diversen Therapievorschlägen und möchte diese auch anwenden. Im Laufe der Zeit merkt man dann (meist), daß man die Spreu vom Weizen trennen muß, um effektiv zu arbeiten. Gott sei Dank ist die Diskussion der Behandlungs- Komplikationen integraler Bestandteil der manualmedizinischen Ausbildung; das fördert die Zurückhaltung, vor allem an der empfindlichen Halswirbelsäule. Etwas ‚rustikaleres‘ Vorgehen bei einer lumbalen Behandlung ist nicht so problematisch wie an der sehr sensiblen HWS.

Die individuelle Entwicklung spiegelt da die Tendenzen der Wissenschaft wieder. Macht man sich die Mühe, ältere Lehrbücher in die Hand zu nehmen, begegnet einem diese Tatsache wieder und wieder. Zu Beginn viel, energisch und schnell. Je länger man dabei ist, desto sparsamer werden die Mittel eingesetzt. Ein alter Hase schaut fast belustigt auf die dicken Folianten, die hunderte von Optionen auflisten,  weiß er/sie doch, daß der Zahn der Zeit die meisten dieser anfangs bestaunten Behandlungs-Varianten aus dem Repertoire entfernt. Ein dickes Lehrbuch wird ernst genommen, kompliziert ist wichtig. Gegen Ende der Laufbahn werden die Ratschläge immer kompakter.

Für uns kann das nur heißen, im Zweifelsfall zurückhaltender vorzugehen, als man das im ersten Anlauf zu tun gedachte, und sich von der Idee zu verabschieden, daß man halt ggf. die Dosis erhöht, wenn’s beim ersten Mal nicht geklappt hat. Unbestritten ist, daß manches erst beim zweiten oder dritten mal ‚zieht‘, aber eben so unbestritten ist, daß schematisches Wiederholen in der Regel keine Lösung ist.

Dabei ist wichtig, zwischen therapeutischen Interventionen und dem Anlernen der Patienten zu neuen oder anderen Schemata und Fertigkeiten zu unterscheiden. Keiner kann nach zwei Stunden Klavier spielen oder reiten. Bei unserem Tun sollte man sich schon vorher bewußt sein, ob es um ein Umprogrammieren im weitesten Sinne oder um eine sparsame therapeutische Intervention geht. Beides setzt völlig unterschiedliches Vorgehen voraus – das auch vorher kommuniziert werden sollte. Wenn ein Patient sagt: „Ich muß alle paar Wochen behandelt werden.“ sollte die Frage im Raum stehen, ob da nicht durch Vertiefen der Diagnose Abhilfe geschaffen werden kann…

Auch und besonders in der Manualmedizin müssen wir davon ausgehen, daß es nicht darauf ankommt, wie viel und gut wir behandeln, sondern, wie viel davon bei Patienten ankommt und verarbeitet wird. Die beste Behandlung verpufft, wenn sie in der Hektik und zwischen einer Vielzahl anderer Verfahren landet, und man dem Patienten nicht die Zeit einräumt, sie zu verarbeiten.

Wir hatten in den ersten Jahren der manuellen Behandlung von Babys immer dazu geraten „gleich mit der Physio weiterzumachen!“  – bei einigen behandelten Babys war nach unserer Therapie die Mutter verhindert, die KG im Urlaub oder ein anderer Grund, die Physiotherapie nicht unmittelbar wieder aufzunehmen – und die Verläufe waren oft besser als bei den Kindern, die gleich wieder in die Physiotherapie gegangen waren. Als wir dem systematisch nachgingen, bestätigte sich dieser Trend.

Bei der Analyse der Behandlungsergebnisse stießen wir auf zwei Grundmuster, die sich natürlich auch oft überlagerten: Eine erste (Haupt)-Gruppe, die relativ schnell reagierte, und ca. ein Viertel der behandelten Babys, die erst nach 1-2 Wochen eine Verbesserung zeigten, zum Teil erst nach einer ‚Erstverschlechterung‘. Das macht es natürlich schwer, die Kausalität zu begreifen, weil man denken könnte, daß die aufgrund der Erstverschlechterung durchgeführte Behandlung Ursache des letztlich Erreichten war. Das auseinander zu halten ist nicht einfach. Da wir aber  grundsätzlich um ein paar Wochen Behandlungspause nach unserer Therapie bitten und inzwischen Tausende von Kasuistiken ausgewertet haben, kann man das heute bei unserer Therapie recht sicher sagen.

Eine ISG- Blockierung manipuliert man und das Ergebnis ist für den Patienten unmittelbar spürbar. Eine HWS- Blockierung kann zu ähnlichen Reaktionen führen, meist dauert es hier einige Zeit, bis die Reaktion eingetreten ist. Nicht selten geht dem eine Irritationsphase voraus. Es ist sehr hilfreich, das vorher klar zu sagen, da es den Betroffenen und deren Familien die Angst vor diesen Reaktionen nimmt.  Man muß es sich auch selber klarmachen, um Übertherapie zu vermeiden.

 

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